22. Februar

Was sollte in Rio auch sonst los sein?!

Was sollte in Rio auch sonst los sein?!

Rio de Janeiro kennt man als Durchschnittsdeutscher aus dem Fernsehen. Dort wird zumeist äußerst differenziert dargestellt, wie ausgesprochen kriminell oder ausgesprochen… nennen wir es körperbewusst die ganze Stadt ist. Während die Berichterstattung über das kriminelle Rio vornehmlich darauf hinweist, wie viele Menschen dort täglich ausgeraubt, ermordet oder überfahren werden, lassen die anderen Reportagen vermuten, dass die brasilianische Metropole eigentlich nur für Samba, Carnaval und Copacabana lebt. Beide Ansichten werden natürlich reich bebildert vertreten. Dabei scheint es unvermeidlich, dass immer wieder eine große, graue Figur ins Kamerabild rückt. Erwähnt wird diese Gestalt meist gar nicht oder nur beiläufig – wahrscheinlich, weil sie aus Stein ist und eindeutig zu viel Kleidung und zu wenig Waffen trägt.

Ankunft mit Hindernissen

Dank pluralistischer medialer Berichterstattung kam ich also mit einem immensen Vorwissen nach Rio de Janeiro. Etwas störte es mich dabei, dass ich nicht so elegant in die Stadt hinein gleiten konnte, wie das im Fernsehen der Fall war. Ich musste den Hintereingang nehmen – und der ähnelte erschreckend stark der Negativberichterstattung über die Zustände in der Stadt: Wir fuhren über holprige, teils löchrige Straßen an armseligen Hütten mit eingeschlagenen Fenstern vorbei, verlassene Geschäftsgebäude zeugten von ehemaligen besseren Zeiten, Müll lag neben der Fahrbahn und das einzige Geschäft, das die armen Menschen hier noch machten, schien im Verkauf von Kokosnüssen und gekühlten Getränken zu bestehen. Wir hatten jedoch plötzlich keinen Durst mehr und entschlossen uns lieber dazu, die Fenster zu schließen und alle Autotüren zu verriegeln.

Hintereingang von Rio: Nicht wirklich einladend

Hintereingang von Rio: Nicht wirklich einladend

Nao joger Lixo aqui?! Müüüllhalde mitten in der Siedlung

Nao joger lixo aqui?! Müüüllhalde mitten in der Siedlung

So fuhren wir eine Zeitlang durch diese „Vororte“ von Rio. Ich sehnte mich bereits wieder nach der Harmonie des Landhauses, als sich das Straßenbild zu bessern begann. Die Bauruinen wichen zunehmend bewohnten Gebäuden und farbenfrohe Stände, an denen frisches Obst verkauft wurde, ersetzten alte Plastikplanen, die zuvor Schrott und Abfall bedeckten.

Schönere Aussicht: Obststände in der Nähe von Rio

Schönere Aussicht: Obststände in der Nähe von Rio

Die Straße wurde zunehmend breiter und als wir die ersten Hochhäuser passierten, fuhren wir bereits auf einer insgesamt achtspurigen Avenue ins Herz von Rio. Ein Herz, das immer noch nicht im Sambarhythmus schlug, denn obwohl doch Carnaval war, tanzte uns keine Sambagruppe entgegen, keine Trommel war zu hören und keine brasilianische Schönheit stand bereit, um uns willkommen zu heißen. Ebenso wenig warteten an jeder Ecke Gauner darauf, unsere Seitenscheibe einzuschlagen, eine Pistole zu zücken und uns auszurauben. Zwar war auch hier die Fahrweise einiger motorisierter Verkehrsteilnehmer durchaus kriminell, davon abgesehen schien Rio jedoch eine ganz normale Stadt zu sein.

Favela mit Charme und Copacabana ohne Chance

Wir stoppten nur kurz am Hotel um unser Gepäck abzuladen und fuhren danach gleich weiter um zu besichtigen, was man in Deutschland gemeinhin als unabdingbare Zutat für eine gute Feuerzangenbowle kennt: den Zuckerhut (übrigens eine fragwürdige Übersetzung, denn im portugiesischen heißt der Berg „Pão de Açúcar“ – Zuckerbrot). Der Weg dorthin führte uns durch lange und zum Teil äußerst spärlich beleuchtete Tunnels. Meist hatten sich die Augen gerade an die Dunkelheit gewöhnt, als die Unterführung bereits wieder endete und grelles, von keiner Wolke gedämpftes Sonnenlicht Sternchen auf der Netzhaut tanzen ließ. Nachdem wir aus einem etwas längeren Tunnel herausgefahren waren und ich mir die Augen gerieben hatte, sah ich in einiger Entfernung hinter ein paar Wolkenkratzern einen Berg. Dieser Berg war überwuchert von kleinen Häusern und Hütten, die irgendwie organisch gewachsen schienen, denn sie hatten sich nahezu perfekt an die Form des Berges angepasst. Jeder hatte anscheinend sein Häuschen dort gebaut, wo er einen Platz gefunden hatte. Es war die größte Favela, die ich bis dahin gesehen hatte, noch ungleich größer als das Armenviertel in Sao Paulo.

Favela in Rio: Eine Stadt in der Stadt

Favela da Rocinha in Rio: Eine Stadt in der Stadt

Obwohl sie aus der Entfernung recht friedlich aussah, wagten wir es nicht hineinzufahren – immerhin sollten sich hier sämtliche kriminellen Machenschaften abspielen, aus denen das Fernsehen seinen Stoff bezog. Also fuhren wir weiter. Und dann, kurze Zeit später, sah ich sie endlich: Die sagenumwobene Copacabana, Hort der knappen Bikinis und göttlichen Bikiniträgerinnen. Hier, so war ich sicher, würden sich endlich jene ersehnenswerten Dinge, die mir kompetente Medienberichterstattung über Rio vermittelt hatte, bestätigen. Das Problem war nur: Es gab keinen Parkplatz. Nirgends. Obwohl die Copacabana etliche Kilometer lang war und theoretisch durchaus genug Platz zum Parken vorhanden gewesen wäre, waren dank des prächtigen Wetters und der brasilianischen fünften Jahreszeit sämtliche Autoabstellmöglichkeiten besetzt. „Gut“, dachte ich mir, „bestimmt ist es auch vom Auto aus möglich, einen Blick auf ein paar knackige Brasilianerinnen zu werfen“. Doch auch das war ein Schuss in den Ofen: Zwar konnte man den Strand von der Straße aus recht gut einsehen, doch verhinderte die pure Masse an dicht nebeneinander aufgestellten Sonnenschirmen den Blick auf das, was darunter lag oder dahinter spazierte (oder „sambierte“). Ich musste mein Voyeurismusbedürfnis Interesse an einem authentischen Blick auf die Verhältnisse in Rio auf eine höhere Ebene verlagern. Dazu sollte auf dem Zuckerbrot genug Gelegenheit sein.

Mehr als nur Feuerzangenbowle

Aus der Nähe sieht der Berg ziemlich beeindruckend aus. Weniger wegen seiner Höhe als wegen seiner Beschaffenheit und seines Standortes: Am Rande der Stadt ragt er unweit der Copacabana in die Höhe. Seine Oberfläche ist nicht rau, schroff und zerklüftet, sondern glatt – wie als wenn ihn jemand mit einem riesigen Schleifpapier rundherum abgeschmirgelt hätte.

Zuckersüßer Ausblick

Zuckersüßer Ausblick

Ein echter Draufgänger, der hier nicht davor zurückschreckt, die Spitze kletternd zu erklimmen. Ich stellte mir kurz vor, wie erhaben das Gefühl sein musste, wenn man den Aufstieg mit eigener Muskelkraft bewältigte. Ein echt tolles Gefühl musste das sein. Dann bestieg ich die Seilbahngondel – zusammen mit 70 anderen Menschen. Während der Fahrt nach oben überschlug ich kurz im Kopf, dass gerade um die sechs Tonnen Gewicht an dem erschreckend dünnen Stahlseil hingen. Ich stellte mir vor, wie mies das Gefühl sein musste, wenn die Gondel abstürzte. Es war ein ziemlich weiter Weg nach unten. Das Gefühl musste ziemlich mies sein. Glücklicherweise stürzte die Kabine, deren äußere Form einer österreichischen Skigondel verblüffend ähnelte, nicht ab, sondern brachte uns unversehrt erst zur Zwischen- und dann zur Endstation. Mein Serotoninausstoß beim Verlassen der Gondel war dem des imaginären wackeren Bergsteigers ebenbürtig. Es kommt eben immer auf die Perspektive an, aus der man die Dinge betrachtet.

Zuckerhut-Seilbahn: Viel Gewicht an dünnem Strang

Zuckerhut-Seilbahn: Viel Gewicht an dünnem Strang

Bereits von der Zwischenstation aus war der Blick auf Rio herrlich. Doch erst vom Zuckerhut offenbarte sich die ganze Pracht und Vielfalt der Stadt. In der Ferne thronte jene riesige steinerne Figur, die im Fernsehen selten näher erwähnt wird, jedoch immerhin eine Ikone der christlichen Religion ist: „Christus der Erlöser“ oder „Cristo Redentor“, wie ihn die Brasilianer nennen, stand dort drüben auf dem Corcovado. Mein Glaube geht normalerweise nicht wirklich konform mit der Kirche, doch diese Skulptur hatte etwas Ehrfurchteinflößendes – sie schien mit ihren ausgebreiteten Armen die ganze Stadt zu bewachen.

Corcovado in der Ferne: die Erleuchtung in Steinform?

Cristo Redentor in der Ferne: die Erleuchtung in Steinform?

Ich sollte am nächsten Tag noch genug Gelegenheit dazu bekommen, Christus den Erlöser näher kennenzulernen. Vorerst hatte sich nun ein leichter Dunst bzw. Smog über der Stadt breit gemacht. Oder war meine Kameralinse schlichtweg dreckig? Jedenfalls hatten meine Fotos von nun an einen leichten Grauschleier. Dennoch wäre es zwecklos und zudem seitenfüllend, den Ausblick in Worte zu fassen. Lassen wir also die Bilder sprechen:

Blick auf Praha Vermelha: Schönes Wetter hat auch seine Schattenseiten.

Blick auf Praia Vermelha: Schönes Wetter hat auch seine Schattenseiten.

Blick auf Copacabana: Menschen und Strand soweit das Auge reicht

Blick auf Copacabana: Menschen und Strand soweit das Auge reicht

Rio vor Sonnenuntergang: Jede Vorstadt aus der Erinnerung gelöscht

Rio vor Sonnenuntergang: Jede Vorstadt aus der Erinnerung gelöscht

Aufgeräumte Klischees

Erst von dieser Position aus bemerkte ich, wie klischeehaft und naiv meine Vorstellung von der brasilianischen Metropole wirklich gewesen war. Rio ist eine Metropole mit besonderem Charme, ebenso wie Sao Paulo. Doch während man in letzterer irgendwie immer das Gefühl hat, nicht – jetzt wird’s auch noch metaphorisch – richtig ausatmen zu können, bietet Rio diesen Raum. Das mag schlichtweg dadurch begründet sein, dass Rio am Meer liegt und seiner Expansion damit natürliche Grenzen gesetzt sind. Es mag auch an den Cariocas (Bewohner Rios) liegen, die recht entspannt eingestellt schienen und ein wenig mehr Urlaubsatmosphäre versprühten als die Paulistas (Bewohner Sao Paulos). Wie dem auch sei, Rio bestand jedenfalls nicht nur aus rassigen Schönheiten (schade) und muskelbepackten Männern (ist ok) und war in jedem Fall mehr als ein Ballermann mit Tropenflair und einem Steinchristus als Gallionsfigur (Schande über mich, dass sich diese Vorstellung bei mir eingebürgert hatte). Natürlich wird Rio einige gefährliche Ecken haben. Wenn man jedoch die entsprechenden Brennpunkte meidet (die man schon aus weiter Ferne erkennt), so ist die Stadt meiner Meinung nach nicht signifikant gefährlicher als einige europäische Metropolen. Während unseres zweitägigen Aufenthalts kamen mir lediglich einige Brasilianer entgegen, die mich mit einem breiten Grinsen „Gringo“ – Fremder – nannten; ein Name, den man als blonder und blauäugiger Deutscher durchaus bereit ist, zu akzeptieren.

Was am ersten Rio-Tag jedoch eindeutig gefehlt hatte, war der Carnaval. Leider konnten wir ihn zu später Stunde nur durch die Röhre betrachten, denn sämtliche Plätze waren restlos ausverkauft. Jedoch reichte die mediale Berichterstattung gänzlich aus, um ein weiteres Klischee aus Deutschland zumindest partiell auszulöschen. Doch davon berichte ich, nachdem wir den Carnaval von Sao Paulo – der dem Fest in Rio mittlerweile beinahe ebenbürtig ist – gesehen haben. So viel vorweg: Er ist lecker :-).

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